Donnerstag, 13. Dezember 2012

Das nennt man asozial

Während Maschinen immer kleiner, Computer immer leistungsfähiger und Medizin immer teurer wird - alles Indikatoren, an denen der Begriff "Fortschritt" gerne festgemacht wird -, tritt die Entwicklung an anderer Stelle auf eben dieser - im Bereich des Phrasendreschens gibt es keine ausgetüftelten Neuheiten. Im Gegenteil: Sie werden immer unambitionierter, immer lahmer, immer blöder. Nur der Wichtigtuer-Faktor, der bleibt stabil; genauso wie die Zahl der Fatzkes, die anderen erklären wollen, wie man etwas nennt.


Da klickt man sich nichts Böses ahnend durch die Spiegel-Homepage und muss sowas wie das hier lesen: Der Google-Chef schäme sich nicht für seine Steuerspartricks, steht da. Ach was, welch Überraschung. Den Finger schon wieder auf das Mausrad gelegt, um mich zu wichtigeren Inhalten weiterzuscrollen, springt er mich dann an, der Satz - einer von jenen, bei denen man mit dem Kopf karatemäßig die Tischkante durchschlagen mächte. "'Das nennt man Kapitalismus', sagt Eric Schmidt", steht da. Ein Satz von hirnerweichend schwachsinnigem Inhalt.

Denn natürlich haben Steuertricks und Kapitalismus nichts, aber auch nicht das geringste miteinander zu tun. Das eine ist ein Sammelsurium mal mehr, mal weniger legaler Methoden, die man anwenden kann, um dem Staat möglichst wenig Geld zu überantworten, das andere die herrschende Wirtschaftsform. Steuern sparen kann man aber auch in einem sozialistischen Staatssystem. Oder einem kommunistischen - ich scheine ja ohnehin der Einzige zu sein, der einen Widerspruch zwischen den Begriffen "kommunistisch" und "Staatssystem" zu sehen scheint, also ordnen wir uns dem Mainstreamsprech für den Moment unter und beenden auch sogleich diese Abschweifung. Kurz: Entweder man spart Steuern oder man spart keine, das ist eine Frage des persönlichen Ansporns und vielleicht der rechtlichen Kompetenz, aber mitnichten eine der ökonomischen Gesellschaftsform.

Mag jetzt kleinkariert klingen, sich so über eine dahinsalbaderte Doofaussage auszulassen. Aber das Problem ist ja viel weitgehender. Die Floskel "Das nennt man soundso" wird ja täglich mutmaßlich hundert-, ach was, tausendfach bemüht, um irgendetwas zu rechtfertigen, was irgendwem anders nicht schmeckt. "Das nennt man Demokratie" ist so ein Beispiel - schon oft gehört, wenn es darum ging, eine unpopuläre Entscheidung zu erklären, die eben nicht unbedingt auf Mehrheitsbasis getroffen worden sein muss. Warum diese Leute dann die Demokratie ins Feld führen? Ganz einfach: Ihr Verständnis von Demokratie erschöpft sich darin, dass die Mehrheit - oder zumindest die angesprochene Person - die getroffene Entscheidung einfach hinnehmen soll. Jedes Kaninchenzuchtvereinsmitglied hat sowas wohl schon auf einer Versammlung erlebt.

Oder: "Das nennt man Meinungsfreiheit." Dieses rhetorische Schätzchen fällt vornehmlich dann, wenn man eine Aussage verteidigen will, die schlicht und einfach bloß beleidigend, unverschämt oder verletzend war. Natürlich ist die Meinungsfreiheit ein hohes Gut, und natürlich ist es eine feine Sache, dass die allermeisten Aussagen in diesem Land von ihr gedeckt werden. Wer die Meinungsfreiheit allerdings als bloßes Alibi für sein eigenes rüpelhaftes Benehmen anführt, vergeht sich geradezu an ihr. Kennt jeder, der sich im Web bewegt und Kommentarspalten liest. Und, unausweichlich wie das nächste Weihnachtsfest, kommt, sobald man einen solchen Trollkommentar löscht, der Satz "Das nennt man Zensur!" Selbstredend immer mit Ausrufezeichen versehen, es geht ja um ein Grundrecht!

Oder, auch sehr beliebt: "Das nennt man Rechtsstaat", meistens in kritischer Absicht und mit angesäuertem Tonfall vorgetragen, weil einem ein bestimmtes Urteil nicht passt. Um Beispiele zu finden, dürfte es reichen, sich einen x-beliebigen Bild-Artikel über einen Straftatverdächtigen, der nicht sofort ohne Urteil weggesperrt und der Schlüssel weggeworfen worden ist, sondern der bis zur Verhandlung auf freien Fuß gesetzt wurde, rauszupicken und die Leserkommentare zu lesen. "Rechtsstaat" wird hier zur Chiffre für "lasche Weicheierjustiz", und keiner von diesen ganzen Möchtegernscharfrichtern hat auch nur für zehn Cent Ahnung davon, was "Rechtsstaat" eigentlich bedeutet - nämlich im Wesentlichen, dass es sich um keinen Willkürapparat handelt.

Und auch im Kleinen trifft man auf diese Benennungsidiotie. "Das nennt man Service" kriegen Angestellte von Dienstleistungs- oder Gastronomieunternehmen gerne zu hören, wenn irgendein selbstherrlicher Gast einen absonderlichen Extrawunsch hat, den man ansonsten eigentlich nicht als im Preis inbegriffen ansieht. "Das nennt man nun Fortschritt", stets mit einem seufzenden Unterton von Leuten vorgebracht, die über eine Erfindung sprechen, mit der sie selbst nie zu tun haben werden. "Das nennt man wohl Kunst", dies immer mit einem süffisant-ironischen Subtext von Leuten geäußert, die absolut kein Kunstverständnis haben. Leute benennen Dinge mit anderen Dingen und wissen überhaupt nicht, was sie sagen.

Ach, ich könnte mich seitenweise darüber aufregen. Belassen wir es aber erstmal dabei und schlagen den Bogen zurück zum Google-Heini, der so wenig Lust hat, Steuern zu zahlen. Dem können wir in rhetorischer Hinsicht nämlich sogar weiterhelfen, denn für seine Weltsicht gibt es ein Wort, ein viel, viel treffenderes als "Kapitalismus": Das nennt man "asozial".

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