Zu den bislang noch wenig erforschten Folgen der globalen Erwärmung zählt der Umstand, dass das Sommerloch im Kalender offenbar immer weiter nach vorne rutscht. Anders lässt sich dieser Artikel in der hiesigen Regionalzeitung wohl kaum erklären: Der olle, sattsam bekannte 419er-Betrug, besser bekannt als Betrugsmasche der "Nigeria-Connection", schafft es immer noch bis zum Aufmacher im Lokalteil. Und wenn man es genau nimmt, reicht auch das Sommerloch nicht ganz als Erklärung aus - dazu kommt wahlweise noch eine gehörige Portion Lustlosigkeit, ein erschreckender Mangel an Internetaffinität oder auch simple Leserverachtung.
Letzteres ist ein hartes, aber angemessenes Wort. Denn so ziemlich jeder Mensch, der nicht erst seit gestern über ein Emailkonto verfügt, dürfte so ein Angebot der Nigeria-Connection schon mal bekommen oder zumindest davon gehört haben. Gut - vielleicht hat es der eine oder andere auch schon wieder vergessen, denn dass der 419-Beschiss größere mediale Aufmerksamkeit erzielte, ist schließlich auch schon wieder ein paar Jährchen her. So einen täglich tausendfach vorkommenden Fall dem zahlenden Leser jetzt, im Mai 2010, nochmal als Neuigkeit zu verkaufen, ist schon bemerkenswert.
Aber hey, schließlich geht es hier um Oldenburg! Und um eine Leserin, vielleicht gar eine heilige Abonnentin, die die Redaktion extra informiert hat! Irgendein ungewaschener Betrüger vom Ende der Welt versucht also, unsere treue und hochgeschätzte Kundschaft übers Ohr zu hauen! Da geht es um Leser-Blatt-Bindung, da werden ganz andere Hirnregionen aktiviert, da muss reagiert werden! (Dass dieser Artikel genau dann erscheint, wenn es darum geht, die extra dicke Pfingstausgabe voll zu kriegen, ist sicher nur ein Zufall.)
Diese Erklärung ist mir auch fast noch lieber als die Vorstellung, dass die Internetaffinität der Redaktion so begrenzt ist, dass diese Mails für sie tatsächlich etwas Neues und Aufmacherwürdiges sind. Dafür spräche die Art, in der die "Ermittler" zitiert werden, denen zufolge es sich um einen "leicht abgewandelten Lockbrief" handele (abgewandelt wohl vor allem im Hinblick auf den einfallsreichen Absendernamen "Shaka Zulu"). Rasiermesserscharf erkannt - ich bin beeindruckt von dieser kompetenten Analyse. Die Betrüger verwenden also nicht seit 20 Jahren denselben Text für ihre Mails! Gut, dass man's weiß.
Ich jedenfalls werde nicht zögern, die Macher der Lokalzeitung künftig in ähnlicher Form zu unterstützen wie das Beinahe-Betrugsopfer, denn davon lebt ein Blatt ja. Ich (als Leser!) werde ihnen schreiben, dass es - man halte sich fest - Leute gibt, die mir aus diffusen Beständen Viagra verkaufen wollen (Seite 2, 140 Zeilen, Infokasten)! Und dann tue ich ihnen kund, dass es kleine Programme gibt, die meine Surfgewohnheiten ausspionieren (Seite 1, 200 Zeilen, zwei Bilder)! Und schließlich hole ich zum großen Wurf aus: Ich setze die Redaktion davon in Kenntnis, dass es im Internet frei zugängliche Pornographie gibt (Extrabeilage, 16 Seiten, zusätzliche Onlinevideos und Dutzende Bildergalerien).
Also, lasst uns künftig nicht mehr einfach nur in unseren Blogs über Spammails, 419er und so lästern - schicken wir sie an unsere Lokalzeitungen! Die sind immer auf der Suche nach brisanten Knallerthemen.
2 Kommentare:
Ist die NWZ nicht betont bemüht, sich möglichst "progressiv" zu positionieren, was Onlinegedöns anbelangt?
Ich erinner mich an einen Vortrag im "Wilhelm Wagenfeld Haus" zu einem dieser selbstverliebten Webmontage, wo einer der NWZ breit über den Relaunch ihrer Seite und das dahintersthende, "pfiffige" Online-Konzept schwadroniert hat.
Uralte Kamellen, die jeder kennt, als Breaking News zu präsentieren, ohne dass das jemand merkt, ist doch auch wirklich pfiffig.
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