Wer erinnert sich nicht an den tödlichen Holzklotz-Wurf von einer Oldenburger Autobahnbrücke am Ostermontag? Eine grauenhafte Tat, die jeden hätte treffen können - was sie für viele Leute um so erschütternder macht. Niemand will zum Opfer eines solchen Verbrechens werden, und niemand will, dass der Täter ungeschoren davonkommt.
Mit Erleichterung wurde daher vor gut zwei Wochen die Nachricht von der Festnahme eines mutmaßlichen Täters aufgenommen. Nur: Der Tatverdächtige scheint sein zwischenzeitlich abgelegtes Geständnis nun widerrufen zu wollen, wie am Samstag bekannt wurde. Das ist immerhin sein gutes Recht - und wenn es stimmt, dass er zum Zeitpunkt des Verhörs unter Entzugserscheinungen litt, muss man ohnehin die Frage stellen, was das dabei abgelegte Geständnis eigentlich wert sein soll. Natürlich gibt es dringende Verdachtsmomente gegen ihn - die Tat muss ihm dennoch nachgewiesen werden, sonst hat er als unschuldig zu gelten und müsste im bevorstehenden Prozess freigesprochen werden. Die Öffentlichkeit hat ihr Urteil allerdings längst gefällt.
Schließlich herrschte sechs Wochen lang quälende Ungewissheit, alle möglichen Teenager mit Schirmmützen wurden aufgrund eines fragwürdigen Phantombildes scheel angeguckt - und dann präsentierte die Polizei einen Verdächtigen, und der war nicht nur arbeitslos, sondern auch noch drogensüchtig. Man konnte die Stimmung regelrecht spüren: Das ist der Täter, das muss er sein, wir wollen, dass er es ist!
Schnell sind in solchen Fällen zwecks Lynchjustiz die Fackeln und Mistforken hervorgekramt. Und die in Oldenburg erscheinende Zeitung hat die Stimmung tatkräftig angefeuert - indem sie nicht nur den Verhafteten deutlich erkennbar auf der Titelseite abgebildet hat (was schon schlimm genug ist), sondern auch seinen vollen Namen, ein Bild seines Hauses und, kaum zu glauben, einen Ausschnitt eines Stadtplanes mit dessen Lage. Würde der Mann auch nur vorübergehend auf freien Fuß gesetzt werden, könnte man ihn wohl kurz darauf vom nächsten Laternenpfahl abschneiden.
Was passiert, wenn sich der Tatverdächtige tatsächlich am Ende als unschuldig erweisen sollte? Sein Leben in dem beschaulichen Vorort Oldenburgs ist restlos zerstört. Er wird sich irgendwo anders etwas Neues aufbauen müssen - und zwar etwas ganz Neues, einschließlich neuer Identität. Fragt sich nur, wo er sich überhaupt noch blicken lassen kann: Seine Bilder sind schließlich auch per Bild-Zeitung durchs ganze Land gegangen. Und als Heroinabhängiger ist es ja nun auch nicht ganz einfach, einen Neuanfang auf die Reihe zu kriegen.
Schon in einem anderen spektakulären Mordfall, der die Gemüter stark bewegte, hat sich die Zeitung nicht mit Ruhm bekleckert, als sie die Angeklagte mit vollem Namen und (trotz Pixelung des Gesichts) gut erkennbar vorführte. Und die Frau ist dann tatsächlich freigesprochen worden. Mal sehen, ob sie mit ihren Nachbarn und ihren Kollegen gut auskommt. Aber darüber berichtet das Blatt dann nicht mehr - zu uninteressant, vermutlich.
Außer natürlich, sie - oder eventuell der mutmaßliche Holzklotzwerfer, falls freigelassen - wird vom aufgebrachten Mob erschlagen. Das wäre wiederum eine Geschichte.
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