Dienstag, 1. Juli 2008

Der große EM-Rückblick: Tore, Truppen, Terrorkampf

Die EM ist vorbei. Das ist schön: Die beste Mannschaft hat gewonnen, die Autos - die mit ihrer Beflaggung zeitweilig eher Streitwagen ähnelten - sehen wieder aus wie das, was sie eigentlich sind, nämlich Kompensationsobjekte für verkümmerte Geschlechtsorgane und die Leitmedien hören endlich auf, ihre Homepages tagelang mit Michael Ballacks Wadenproblemen aufzumachen.

Zeit, sich den üblen Geschmack übermäßigen Biergenusses von den Zähnen zu bürsten, die vom "Humba, humba, humba Täteräääää"-Singen gebrochene Stimme mit Kamillentee zu ölen und einen Rückblick zu wagen. Und zwar auf das, was man aufgrund der besonderen Umstände nicht so recht mitbekommen hat:

Seit Montag, 30. Juni, stellt die Bundeswehr die "Quick Reaction Force" in Nordafghanistan. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sind damit reguläre deutsche Soldaten offiziell in einem anderen Land im Kampfeinsatz.

Am Donnerstag, 26. Juni, kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel an, ihr Versprechen zur Anhebung der Entwicklungshilfe doch nicht einzulösen. O.k., das wird hierzulande wohl keine Revolte auslösen. Ein Wortbruch bleibt es dennoch.

Dienstag, 24. Juni: Verteidigungsminister Franz-Josef Jung gibt bekannt, mit der Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr die dort stationierten Truppen um 1.000 Soldaten anheben zu wollen. Das wäre ein Anstieg um ein knappes Drittel.

Freitag, 20. Juni: Wolfgang Schäuble legt die Neufassung des BKA-Gesetzes vor, mit dem nicht nur die Online-Durchsuchung, sondern auch die Videoüberwachung von Wohnungen ermöglicht wird. Ein weiteres Grundrecht, mit dem sich der Innenminister den Hintern abwischt.

Mittwoch, 18. Juni: Die Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht eine Studie über rechtsextreme Tendenzen, nach der sich beinahe jeder sechste Deutsche einen "Führer" wünscht.

Sonntag, 15. Juni: Aussenminister Frank-Walter Steinmeier erweist den Machthabern in Peking seine Ehrerbietung. Um die Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung nicht zu verderben, verzichtet er auf jede Erwähnung des Dalai Lama oder der Gewaltaktion in Tibet. Fehlt eigentlich nur noch eine Tributzahlung.

Dienstag, 10. Juni: Die deutsche Autoindustrie setzt sich im Streit über Klimaschutzvorgaben durch. Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy handeln einen "Kompromiss" aus, nach dem BMW, Benz und Co. weiterhin ihre spritsaufenden und umweltverpestenden Monsterkarren bauen dürfen.
(Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; weitere Hinweise nehme ich gerne entgegen.)

Von Ereignissen im Ausland, die hier niemanden interessiert haben, weil man sich lieber Sorgen um Torsten Frings' Rippe machte, ganz zu schweigen. Ein alter politischer Taschenspielertrick: Hast du ein unpopuläres Vorhaben zu verkünden, mach' es während eines großen Fußballturniers. Man kann sich - netter Nebeneffekt - darauf verlassen, dass die Medien mitspielen und die Fußball-Schiene auch nach Beendigung des Turniers so lange weiter bedienen, bis es groteske Züge annimmt. Wenn die Leute anschließend wieder zur Besinnung kommen, ist die Meldung schon zwei Wochen alt - und irgendwie kein Aufreger mehr.

2 Kommentare:

juwi hat gesagt…

Deine Auflistung gibt einen sehr netten Überblick über einige wesentliche Gemeinheiten. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, auf diese Weise jeden Monat einen Monatsrückblick zusammenzustellen?

Das Problem ist, dass sich zu viele Leute in den Regierungen von Bund, Land und Komunen zu viele fiese Dinge ausdenken, was es mir als Einzelperson ziemlich unmöglich macht, alles im Blick zu behalten. Um darauf als Einzelner in jedem Fall reagieren zu können, müsste ich hauptberuflich Blogschreiber- und Kommentator, Leserbriefschreiber und gleichzeitig noch vieles mehr sein. Außerdem würde mich dann nur noch aufregen, und dabei eines Tages das Lachen vergessen. Deshalb rege ich mich lieber nur über die vielen Kleinigkeiten auf, über die ich mehr oder weniger zufällig stolpere.

Ich habe mir einmal den Aufreger "Bundeswehr in Afganistan" aus deiner Liste herausgepickt - Dazu gestern in den Tagesthemen:

Die Bundeswehr sei jetzt das erste Mal in einem Kampfeinsatz ... An den Gedanken, dass von jetzt an auch mit Verletzten und Toten zu rechnen sei, müsse sich die deutsche Bevölkerung aber wohl erst noch gewöhnen ...

Gar nichts muss die deutsche Bevölkerung. Die könnte zum Beispiel genausogut dagegen auf die Straße gehen! Ich muss mich jedenfalls nicht daran gewöhnen!! Das werde ich nie können!!!

Wer sich daran gewöhnt, dass deutsche Menschen in staatlichem Auftrag irgendwo in der Welt irgendwelche Menschen umbringen, mit denen sie nie in Berührung gekommen wären, wenn sie mit ihrem Hintern zu Hause in ihren Kasernen gebleiben wären, der ist auf dem besten Wege einen Teil seiner "Menschlichkeit" zu verlieren.

Wer sich daran gewöhnt, dass deutsche Menschen irgendwo in der Welt von bestialischen Waffen zerfetzt die Rückreise in einem Leichensack antreten, der ist ebenfalls auf dem besten Wege einen Teil seiner "Menschlichkeit" zu verlieren.

Es wird immer wieder gesagt, der Kampfeinsatz sei kein Angriffskrieg ...

Als die Bundeswehr ihre Finger nach mir ausstreckte, hieß es sie sei doch nur eine reine Verteidigungsarmee ...

Ich konnte damals nicht verstehen, wie mit Atomsprengköpfen bestückte Raketen, deren Ausrichtung und Reichweite auf Ziele in den östlichen Gebieten der damaligen Bundesrepublik schließen ließ, der Landesverteidigung dienen sollten. Ich hatte den Eindruck, die wollten mich damals veräppeln. Unter anderem auch deshalb habe ich versucht den Kriegsdienst zu verweigern, und die erste Demonstration an der ich teilgenommen habe war gegen die Aufrüsung der Mittelstrecken Atomraketen gerichtet. Meine Eltern waren deswegen in heller Aufregung: Junge! Geh' da bloß nicht hin. Da wirst du verprügelt, eingesperrt, umgebracht oder noch was schlimmeres ("Hallo?: Das ist 'ne Friedensdemo! Pazifisten prügeln nicht!"). Meine Versuche, den Kriegsdienst zu verweigern, wurden hingegen mit der Bemerkung unterstützt: "Geh' da man ruhig hin. Das hat noch keinem geschadet."

Das sollten die mal den Hinterbliebenen erzählen, deren Söhne, Brüder und Väter demnächst möglicherweise in Einzelteilen aus Afganistan zurückkehren!

Ich finde es erschreckend, in welch einer kurzen Zeit seit dem Ende des kalten Krieges dafür gesorgt worden ist, dass der "Armee zur reinen Landesverteidigung" die Arbeit nicht ausgeht, indem sie jetzt irgendwo in der Welt in irgendwelchen Kriegen zum Kämpfen eingesetzt wird. Das bisher positive Bild in der Welt von den "Aufbauhelfern in Uniform" könnte sich dadurch möglicherweise schneller in das Gegenteil verwandeln, als uns allen lieb sein kann.

Dr. No hat gesagt…

@Juwi: Ab und an mal Rückblicke zu posten, daran habe ich tatsächlich mal gedacht. Mal sehen, was die uns zu Olympia heimlich unterschieben wollen ... ;-)

Ich stimme Dir vollkommen zu: Es ist unmöglich, auf alles adäquat zu reagieren, wenn man's nicht als hauptberuflicher Blogger macht - und auch als Journalist hat man nur noch in den seltensten Fällen Gelegenheit, sich über das Tagesgeschäft hinaus eingehend mit diesen Vorgängen zu beschäftigen.

Das deprimierende an der perfiden Strategie ist die logische Systematik dahinter: Indem man immer noch eine Schippe drauflegt, ist das bislang Erreichte nichts Ungewöhnliches, ergo auch nichts besonders Umstrittenes mehr. Schäuble plant Videoüberwachungen in Wohnungen - das wird (hoffentlich) noch einige Proteste und (sicherlich) parteipolitische Grabenkämpfe nach sich ziehen. Das ältere und nicht minder kontroverse Thema Online-Durchsuchungen, das er in einem Aufwasch jetzt mit durchsetzen will, ist dann aber plötzlich Schnee von gestern, wird achselzuckend hingenommen - vielleicht meint der eine oder andere sogar, die PC-Schnüffelei könne man ja noch hinnehmen, hauptsache, die Videokamera im Schlafzimmer bleibt einem erspart.

Ebenso das Thema Bundeswehr. Dass deutsche Soldaten irgendwo auf der Welt auf irgendwen schießen, ist ein derartig skandalöse Entwicklung, dass einem - entschuldige - der Arsch platzen könnte. Aber auch das hat sich im Lauf der Jahre immer weiter hübsch gesteigert, von Sanitätern über Awacs-Flüge bis hin zum KSK und der QRF. In ein paar Jahren heißt es dann bei etwaigen Kriegseinsätzen der BW nicht mehr "ob", sondern nur noch "wie viele".

Tja - wir sind halt wieder wer! Manch einer träumt schon wieder von deutschen Expeditionskorps, an denen die Welt genesen soll... Eine Verteidigungsarmee ist die BW übrigens nach wie vor, nur wird Deutschland nun überall auf der Welt verteidigt - und zwar im Vorwärtsgang.

Blut an den Händen haben wir eh schon. Man möchte kotzen. Und nein, auch ich werde mich daran nie gewöhnen.

Herzliche Grüße nach BHV