Dienstag, 29. Dezember 2009

Das Millionenspiel

Bei der Wikipedia, der Spielwiese für im realen Leben zu kurz gekommene Bescheidwisser, geht die Post ab: Kaum hat die deutschsprachige Sektion endlich die lang erwartete Eine-Million-Artikel-Marke gesprengt, hauen sich die selbsternannten Projektleiter, von denen es ebenfalls mindestens eine Million zu geben scheint, die Köppe ein. Denn der millionste Artikel dreht sich um einen Gärtner, den keine Sau kennt, und darum, dass ein 13-jähriger Nutzer ihn umgehend zur Löschung vorgeschlagen hat. Wie es zuvor auch schon bei vermutlich einer Million anderer Artikel der Fall war.

Denn die deutsche WP ist mittlerweile berüchtigt dafür, mit recht rigiden Kriterien die Relevanz von Artikeln auf den Prüfstand der Eitelkeiten zu stellen. Und wenn die halbgebildeten Wissenswächter den im Artikel beschriebenen Sachverhalt nicht kennen und es zu wenige Google-Treffer dazu gibt, fällen sie nur zu gerne das Todesurteil in Form des zu einem hohlen Kampfbegriff degenerierten Wörtchens "Irrelevant!" - und schon senkt sich das Damoklesschwert der Löschung herab, schneller, als man "Klugscheißer" sagen kann; das ist wie mit den Ernährungsgewohnheiten des Bauern. Ebenfalls vermutlich rund eine Million Autoren haben dem Projekt, das wohl immer im Projektstadium bleiben wird, daher auch schon entnervt und angewidert den Rücken gekehrt - ein Vorgang, der intern natürlich ebenfalls auf die WP-typische gehässig-elitäre Art geregelt ist.

Hauptqualitätsmerkmal dieser selbstverliebten Möchtegernenzyklopädie scheint es nämlich zu sein, dass ein Leser, der irgendwann einmal - aus welchen Gründen auch immer - wissen möchte, was der Verband Region Emmental so macht oder worum genau es bei der Randsportart Bouncerball handelt, diese Information niemals, keinesfalls, unter keinen Umständen in der Wikipedia - die mit der ambitionierten, man könnte auch sagen: größenwahnsinnigen Floskel "Wir sammeln das Wissen dieser Welt" wirbt - finden soll. Bloß nicht!

Wahrscheinlich schwebte den Hardcore-Wikipedianern als Jubiläumsartikel etwas Ruhmreicheres, Erhabeneres und vor allem Vorzeigbareres als Ernie Wesson vor, so etwas wie "Urknall" oder so. Da es den aber schon gibt und es bei einer solchen Zahl an Artikeln sowieso alle wesentlichen Themen schon behandelt sein dürften, und weil sich eine ganze Menge Autoren mit dem Millionentitel selbst adeln wollten, prasselten in den entscheidenden Minuten mehrere hundert Artikel auf den Server ein, nicht wenige von ihnen gerade mal drei Sätze lang - und so richtig vom Hocker reißt einen keiner. Um so ätzender die Kommentare mancher Altgedienter, aus denen die nackte Eifersucht spricht.

Und natürlich die sektiererische Angst vor der pöhsen Welt da draußen, wenn wiederholt darauf hingewiesen wird, dass sich die "Gossenpresse", worunter wohl alle Medien fallen, über genau solche Vorgänge freuen werde - echte Wikipedianer bezweifeln nicht, dass auch die seriösesten Medien nichts Wichtigeres auf der Pfanne haben, als auf den neuesten Fall einer endlosen Reihe von Wikipeinlichkeit zu warten und sich anschließend darauf zu stürzen. Daher hätte der 13-jährige Löschantragsteller, ginge es nach dem Willen eines alteingesessenen Administrators, auch keine Gnade zu erwarten:
"Auch wenn Löschanträge gegen Meilensteine schon Tradition haben, sollte hier mal eine Sanktion gegen den Antragsteller erwirkt werden. Der Antrag ist gelinde gesagt eine Frechheit. [...] Kein Wunder, daß es von Außen (und Innen) immer wieder so viel Kritik gibt." (Quelle)

Wohlgemerkt: Diese Sanktion soll der Nutzer - dessen Diskussionsseite sich mittlerweile zum Nebenkriegsschauplatz entwickelt hat - dafür bekommen, dass er sich eines regulären WP-Instruments bediente, wie es täglich Dutzende Male passiert. Aber schließlich schadete er dem *trommelwirbel* "Ansehen" des Projektes, und das dürfen nur Administratoren.

So weit, so unsagbar öde. Sein I-Tüpfelchen bekommt die Sache allerdings mit dem Bettelbrief von WP-Gründer Jimmy Wales, der auf dem Seitenkopf verlinkt ist und in dem er wie ein wahnsinniger Prediger mit messianischem Anspruch klingt ("Es erfüllt mich mit Stolz und Demut zugleich, dass sich in den acht Jahren seither Hundertausende von Freiwilligen mir angeschlossen haben, um die größte Enzyklopädie in der Geschichte der Menschheit zu schaffen."), der Geld von seinen Jüngern fordert. Aber immerhin bringt Wales den ganzen Irrsinn mit einem einzigen Satz auf den Punkt:
"Wikipedia symbolisiert die Fähigkeit der Menschheit, außergewöhnliche Dinge zu erschaffen."

Fürwahr.

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