Ja, es ist ein tragisches Unglück, wenn ein Flugzeug mit knapp 100 Menschen an Bord abstürzt und niemand überlebt. Und ja, es ist ein außergewöhnliches Ereignis, wenn das Staatsoberhaupt und weitere hochrangige Staatsdiener eines Landes an Bord waren. Und schließlich ja, man kann von mir aus schreiben, dass dieses Land nun "unter Schock" stehe und die Bevölkerung offenbar kollektiv trauere, obwohl solche Formulierungen schon hart an der Grenze der Schwulst kratzen und in ihrem herbeibemühten Pathos nur zu durchsichtig sind. Aber irgendwo hört der journalistische Spaß auf - und zwar da, wo historische Parallelen gezogen werden, wo es keine gibt: Das Stichwort lautet "Katyn".
Dort hatten 1940 Einheiten des sowjetrussischen NKWD ein Massaker an polnischen Intellektuellen, Beamten, Offizieren und anderen Anghörigen der Eliten verübt; mehr als 20.000 Menschen wurden ermordet. Kaczynski befand sich auf dem Weg zur Gedenkfeier in dem heute zu Russland gehörenden Ort (warum sich Spon-Autor Jan Puhl zu der Bemerkung "ausgerechnet" hinreißen ließ, bleibt wohl sein Geheimnis). Damit sind die denkbaren Parallelen zwischen Kaczynski und dem historischen Verbrechen auch schon ausgeschöpft.
Aber natürlich nicht für manche Politiker, die auf schmierige Art die Staatstrauermaschinerie immer weiter füttern wollen, und offenbar auch nicht für manche Journalisten, die - aus welchem Grund auch immer - auf diesen Zug aufspringen zu müssen meinen. Den Vogel schießen zwei AFP-Autoren ab, die ihren (warum auch immer als "Kommentar" bezeichneten) Text mittels der Überschrift "Die doppelte Tragödie von Katyn" unter das Leitbild eines völlig abstrusen Äpfel-Birnen-Vergleichs stellen. Nicht nur Historiker verspüren wohl körperliche Schmerzen bei solch schillernden Ergüssen.
Natürlich bedienen die beiden sich an Steilvorlagen in Form intellektueller Flachpässe wie dem des anscheinend langsam in Altersdebilität abgleitenden Lech Walesa, der dem Bericht zufolge allen Ernstes sagte: "Vor 70 Jahren haben die Sowjets in Katyn die polnische Elite ermordet. Heute ist erneut die polnische Elite ums Leben gekommen." Ex-Präsident Kwasniewski sekundierte: "Mir fehlen die Worte: ein zweites Katyn." Aua! Auf der einen Seite ein Flugzeugunglück, auf der anderen ein geplanter Massenmord; auf der einen Seite ein ums Leben gekommener Präsident und eine Handvoll Staatsdiener, auf der anderen 20.000 Erschossene - die historischen Brücken, die hier geschlagen werden, würde ich in all ihrer Baufälligkeit nicht einmal antippen, geschweige denn betreten.
Premierminister Tusk versteigert sich gar zu der Aussage: "Die moderne Welt hat noch nie eine solche Tragödie erlebt." Hm - die Menschen in Darfur sind da vielleicht anderer Meinung. Aber natürlich nicht die in Polen: Unter denen herrscht, und zwar offenbar bei allen, wie immer in solchen Fällen "Fassungslosigkeit, Trauer, Ratlosigkeit". Die armen Polen irren seit Tagen nur noch durch die Straßen und wissen nicht mehr, wie sie heißen und was sie tun sollen: "Und alle fragen sich, wie die Tragödie bewältigt werden, wie es weitergehen soll", unterstellt Spon den Eingeborenen völlige Handlungsunfähigkeit, aber glücklicherweise nimmt unsere Bildungsministerin Annette Schavan ihnen die unmittelbare Zukunftsangst: Sie erwartet "kein Machtvakuum". Puh - die völlige Anarchie gerade noch abgewendet... Unsere Freunde jenseits der Oder werden von manchen behandelt, als ob Polen irgendeine Dritteweltdiktatur wäre, ohne Verfassung, ohne Parlament, ohne irgendwas.
Also, liebe Journalisten und Politiker, die ihr euch am unglücklichen Schicksal der 96 Opfer des Absturzes abarbeiten zu müssen meint, kriegt euch bitte mal wieder ein. Trinkt eine schöne Tasse Tee, sammelt eure Gedanken (lest vielleicht noch mal die Kartoffelaffäre nach, um ein bisschen von eurem Pathoslevel herunterzukommen) und stellt bittebittebitte sämtliche Versuche ein, dem ganzen irgendeine historische Kontinuität einbläuen zu wollen. Das solltet ihr ohnehin lieber denen überlassen, die Ahnung davon haben, und diese Leute lassen aus gutem Grund in der Regel die Finger davon.
Ansonsten kann man nur hoffen, dass Horst Köhler nicht mal während der Anreise zur Auschwitz-Gedenkfeier ums Leben kommt. Da würden einige Vertreter der schreibenden Zunft vermutlich implodieren.
Siehe auch Frau Dr. BuStä.
3 Kommentare:
Musste mal gesagt werden. Aber so Äpfel-Birnen-Dinger bekommt man ja andauernd vorgelegt. Ich frage mich, ob es nicht doch den einen oder anderen Polen gibt, der über Kaczynskis Tod nicht unglücklich ist, dem beim Gedanken an Katyn aber das Herz schwer wird.
PS: Deine Beiträge kommen seit einigen Tagen nur noch als Überschrift im Feedreader an. Hast du was geändert?
Upps - nein, habe eigentlich nichts geändert, von der Einstellung des neuen Votings mal abgesehen. Im Google-Reader tauchen meine Posts noch normal auf, also angeteasert.
Ich hoffe, das gibt sich demnächst von selbst, denn ich wüsste auch gar nicht, wo ich jetzt nach Fehlern suchen sollte. (Scheiss Blogger.com, irgendwas ist immer putt).
Die können aber auch alle differenziert denken! Whoa!
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