Beinahe wäre ich auf den letzten Metern des ausklingenden Jahres noch zum Mörder geworden. Dann würde ich heute in der Zeitung stehen; und ob der Brutalität meines Vorgehens würden sich sämtliche Geheimdienste der Welt fragen, zu welch finsterer Bande ich denn nun gehörte, denn selbst Al Qaida wäre angesichts meiner blutrünstigen Vorgehensweise dermaßen entsetzt, dass sie auf das übliche Bekennerschreiben verzichtet hätte. Dabei hätte ich mit der spektakulären Bluttat doch nur zwei Dinge erreichen wollen: Zum einen den Finger auf ein gesellschaftliches Tabu legen, auf ein Thema, das viele betrifft und unter dem viele leiden, das aber öffentlich kaum diskutiert wird. Und zum anderen, dass die blöde Kuh neben mir endlich damit aufhört, tonnenweise Popcorn in sich hineinzuschaufeln.
Im Ernst: Die Frau hat 90 geschlagene Minuten lang wie eine von einem wahnsinnigen Ernährungswissenschaftler konstruierte Fressmaschine im Fünfsekundentakt eine Handvoll des pappigen Maisproduktes nach der anderen aus einem bierfassgroßen Eimer in ihren nimmersatten Schlund gestopft. Raschelraschel, krunschkrunsch, schmatzschmatz. Raschelraschel, krunschkrunsch, schmatzschmatz. Zwischendurch: Schnief, rotz. Raschelraschel, krunschkrunsch, schmatzschmatz... ohne Pause, stunden-, ach was: tagelang; ihre gleichsam sinn- wie hirnlose Beschäftigung nur kurz unterbrechend, um ihrem Freund zwischendurch unqualifizierte Bemerkungen in der Lautstärke eines Stadionsprechers zuzuraunen.
Und das alles während des teuersten Kinobesuchs, den ich mir in meinem Leben bislang geleistet hatte. "Avatar" in 3D, für elf Euro. Ich sah es daher eigentlich als mein absolutes und unveräußerliches Grundrecht an, so jemandem einfach den Eimer entreißen und in hohem Bogen in den Seitengang schleudern zu dürfen; und je länger ich mich zurückgehalten habe, diesen Schritt zu unternehmen, desto mehr tendierte ich dazu, ihr den Eimer auf die Rübe zu stülpen und so lange runterzudrücken, bis sie am Popcorn ersticken mochte. Da sieht man es mal, wie weit einen manche Leute bringen.
Der wandelnde Maistrog entging dem gewaltsamen und möglichst schmerzhaften Tod durch meine rächende Hand nur, weil er - ich meine natürlich: sie - in der zweiten Filmhälfte irgendwann ob der beeindruckenden Optik des Geschehens auf dem fernen Planeten Pandora mit der fließbandmäßigen Fressorgie aufhörte, die Hand auf halben Weg vom quitschbunten Füllhorn zum bereits erwartungsvoll geöffneten und zweifellos sabbernden Mund innehaltend. Stattdessen verbrachte sie die letzte halbe Stunde mit chronischer Husterei, weil die mehreren Dutzend Megatonnen staubtrockenen Getreideerzeugnisses ihren körpereigenen Flüssigkeitshaushalt trotz periodischer Zufuhr koffeinhaltiger Zuckerbrause aus einem beinahe ebenso großen Gefäß heillos durcheinander gebracht hatten.
Wenn ich wenigstens Physiker wäre. Dann könnte ich mir das Wochenende mit der Berechnung des Rätsels vertreiben, wie es eigentlich sein kann, dass drei Kubikmeter Popcorn in so eine kleine Person passen oder wie man es schafft, ein Behältnis von theoretisch begrenzter Größe über Stunden ebenso planmäßig wie geradezu industriell vorgehend seines Inhalts zu berauben - und am Ende trotzdem noch etwas übrig gelassen zu haben, wie meine traurigen und irre flackernden Augen feststellen durften, als das Licht wieder anging.
Aber so, als normaler gescheiterter Geisteswissenschaftler? Da macht man sich höchstens Gedanken über die gesellschaftliche Bedeutung des Popcornrituals im Kino. Ich meine, warum futtern die Leute das Zeug himalayaweise? Gewinnt der Film dadurch an Qualität - etwa weil man sich nach dem ersten Kilo leicht benommen fühlt und das mit einem erweiterten Bewusstsein verwechselt?
Oder geht es um die schnöde Befriedigung profanen Gruppenzwangs, gepaart mit einer fatalen Salz-und-Zucker-Sucht, an der sich die Kinobetreiber in unanständigem Maße bereichern und dabei angesichts der Gewinnspannen bei Naschwerk und Erfrischungsgetränken fast in der Liga von Drogendealern spielen? Oder handelt es sich, psychologisch betrachtet, schlicht um ein Ventil, seine ganz alltägliche Verachtung für sämtliche Belange des Wohlbefindens seiner Mitmenschen öffentlich zur Schau zu stellen?
Man weiß es nicht. Ebenso wenig wie die betreffende Frau weiß, wie wahnsinnig knapp sie gestern mit ihrem Leben davongekommen ist. Möge sie sich wenigstens vor Bauchschmerzen krümmen, wenn sie schon meinem gerechten Zorn entronnen ist.
Ach ja, der Film: Durchaus sehens- und empfehlenswert. Allerdings sollte man einen Kinobesuch erst in frühestens drei Wochen ins Auge fassen, wenn sich die Auslastung der Säle einem Niveau angenähert haben wird, das es einem erlaubt, sich einen Platz ohne lästige Nachbarn zu suchen. Denn nicht jeder kann sich so zusammenreißen.
1 Kommentar:
Du hättest deinem Zorn, freien Lauf lassen müssen. Und damit für die nächsten, denen es genauso geht, ein Zeichen gesetzt zuhaben.....
In diesem Sinne :)
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