Donnerstag, 12. November 2009

Die Redaktion bittet zum Totentanz

Haben Sie den Ruck verspürt? Am Dienstagabend hörte der Planet vorübergehend auf, sich zu drehen; heute kommt er langsam wieder in die Gänge. Zumindest konnte man diesen Eindruck gewinnen, wenn man sich in den letzten eineinhalb Tagen durch die Medien geklickt, gezappt oder geblättert hat: Ein berühmter Mensch begeht Suizid, der Zirkus beginnt - und Onlineredakteure jeglicher Couleur drehen vollständig durch. Wer dachte, der Medienhype um Michael Jackson wäre ein Sonder- und Einzelfall gewesen, wurde eines besseren belehrt. Unerwartete Tode haben sich als höchst lukrative Klickschleudern erwiesen. Da müssen die Opfer halt auch mal zurücktreten.

Ja, ja - Robert Enke war nicht irgendwer. Millionen Deutschen war er ein Begriff, und die Umstände seines Todes sind zweifellos tragisch. Mit Depressionen ist nicht zu spaßen - übrigens ist auch das Millionen Deutschen ein Begriff. Und es kommt auch nicht häufig vor, dass sich ein berühmter Mensch wie Enke in diesem Alter, materiell längst abgesichert und auf dem Gipfel seiner Karriere stehend, das Leben nimmt. Also muss man als Medium auch adäquat darauf reagieren - klar soweit. Viele Leute interessiert das nun mal.

Aber, meine Güte nochmal: Musste dieses Spektakel nun sein? Etwa 36 Stunden lang nahm Enkes Suizid die ersten drei Aufmacherplätze bei Spiegel online ein. Die Zahl der Artikel, die im Titel Wörter wie "Fassungslosigkeit" und "Entsetzen" tragen, dürfte längst im oberen dreistelligen Bereich angelangt sein. Fotostrecken durften nicht fehlen, vor allem von der Unfallstelle, wegen des Nachrichtenwerts und so. Keine 20 Stunden nach seinem Tod wurde bereits Enkes Ehefrau vor die Kameras und Mikrofone gezerrt und auf eine Pressekonferenz gezwungen. Blogs und Fansites werden durchgesiebt und recyclet. Ein virtuelles Kondolenzbuch muss her. Und jeder, der nicht bei drei auf dem Baum ist, wird um ein Statement gebeten - oder drängt den Reportern eines auf. Zu den erschütterten und verzweifelten Überlebenden zählen Beckenbauer (für den plötzlich "alle anderen Probleme ganz klein [sic!]" werden), der unvermeidliche Pocher, der noch viel unvermeidlichere Kerner sowie ein Typ, der zufällig in der Nähe der Bahngleise wohnt (dazu unten mehr).

Obgleich ich, wie gesagt, durchaus verstehe, dass dies keine unbedeutende Geschichte ist und viele Leser Informationen haben wollen, fühle ich mich vom Medienrummel erneut einigermaßen abgestoßen. Ich würde mir von den Redakteuren wünschen, das Leben und die Probleme eines Menschen, der seinen letzten Ausweg im Suizid sah, nicht dermaßen kaltblütig und PI-geil durch den Medienwolf zu drehen. Ich würde mir von ihnen wünschen, die Angehörigen in diesem für sie unglaublich schlimmen Moment einfach mal in Ruhe zu lassen. Ich würde mir von ihnen wünschen, dass sie - wenn sie schon Artikel zum Thema wie am Fließband produzieren - vielleicht auch mal ein, zwei Worte über die Lokführerin verlieren, die ab sofort mit einem Trauma zu kämpfen haben wird. Ich würde mir, kurz gesagt, wünschen, die Redakteure würden Enke in Würde sterben und seine Familie und Freunde in Würde trauern lassen. Später ist doch immer noch Zeit für Hintergrundberichte.

Aber das ist ein frommer Wunsch, denn es gibt kein "Später" in der schnellen, hochgradig vernetzten, schönen neuen Medienwelt. Dort galt es schon immer als vornehmster Nachweis journalistischer Kompetenz, die Meldung 2,41 Sekunden früher online zu haben als alle anderen, auch wenn das ohnehin kaum ein Leser merkt. Und nun lernen wir allmählich, dass den Chefetagen auch das nicht mehr reicht: Schnell sind sie mittlerweile alle, und qualitativ schlecht sind sie in der ersten Stunde auch alle - die Texte werden, ohne groß nachzudenken ("Beeilung! Los! Raushauen!"), aus verschiedenen Agenturmeldungen lieblos zusammengetackert und später, sobald die herbeitelefonierte redaktionelle Kavallerie eingetroffen ist, "schöngeschrieben".

Ergo bleibt nur die Quantität als Alleinstellungsmerkmal - schmeißen wir die Leser einfach dicht mit Geschichten! Je mehr er hier bei uns findet, desto länger bleibt er auf unserer Seite und generiert Klicks, Traffic und sogar Visits, wenn er dauernd zu uns zurückkehrt, weil andere eben kein Interview mit dem Wellensittich des Nachbarn haben. Und Klicks sind bekanntlich bares Geld, also - lange Rede, kurzer Sinn - geht es darum, aus dem Tod dieses Menschen, aus diesem Amoklauf oder aus jenem "Familiendrama" so viel Kohle wie möglich zu quetschen. Vermutlich werden künftig Werbekunden spezielle Angebote dafür erhalten, ihr Banner gegen Aufpreis neben solchen Meldungen zu zeigen. Mir graut vor dem nächsten entsprechenden Ereignis.

Ach, und wer schon immer mal wissen wollte, wie man einen eigenen Text beim Spiegel veröffentlicht bekommt, sogar mit Portraitfoto: Wohnen Sie einfach in der Nähe eines Ortes, an dem ein Prominenter unter möglichst aufsehenerregenden Umständen ums Leben kommt. Es reicht auch, irgendwann einmal dort gewohnt zu haben; und notfalls helfen Sie eben nach. Ist es dann soweit, schreiben Sie einen "Fan-Nachruf" und scheuen sich nicht, jedes Klischee zu bedienen: Duzen Sie den Toten, als wäre er ein Freund gewesen. Benutzen Sie Floskeln wie "Ein Mann, der stets auf dem Boden geblieben war" oder "... war er stets bescheiden und zurückhaltend geblieben", obwohl Sie ihn niemals kennen gelernt haben. Vergessen Sie keinesfalls die ebenso rhetorische wie abgegriffene Frage "Warum ausgerechnet er?" Und schließen Sie mit einer der üblichen quasireligiösen Phrasen.

Glauben Sie mir, damit haben Sie Erfolg beim Putzen der Redaktionstürklinken. In solchen Fällen nehmen die alles. Und wenn Sie es mit dem Schreiben nicht so haben, stellen Sie einfach ein Pappschild mit der Aufschrift "Warum?" am Unglücksort auf.

2 Kommentare:

darki hat gesagt…

Deinen Text, kann ich voll und ganz nachvollziehen. Allerdings verstehe ich nicht, wieso Freunde und Familie sich zu so etwas drängen lassen.
Ich war bisher noch nicht und hoffe, dass ich nie in solche eine Situation kommen werde. Doch im Moment würde ich behaupten, dass ich jedem den Effenberg zeigen würde, der nach solch einem Verlust auch nur irgendwas von mir will!

MfG
darki

Dr. No hat gesagt…

Ich mag mir auch nicht den Druck vorstellen, der vermutlich auf Frau Enke ausgeübt wurde. Ich schätze, ihr wurde klar gemacht, dass wenn sie nichts zu der Tragödie sagen würde, die Reporter einfach irgendwas schreiben und wild herumspekulieren würden, und das wollen wir doch nicht, nicht wahr, Frau Enke, es geht doch um das Andenken an ihren Mann blahblahblah.

Schlicht und einfach eklig ist das, und ich kann manchmal gut nachvollziehen, warum der Berufsstand des Journalisten bei einigen Leuten niedrigeres Ansehen genießt als Kakerlaken.