Sonntag, 3. Oktober 2010

Das Ende der Geschichte, Teil I: Democracy is stonk!

Den Fernseher sollte man heute meiden: Allüberall Einheitsbesoffenheit, gegenseitige Bauchpinselei und Beschwörung der ach so erfolgreichen und stabilen Demokratie in diesem Land, während die Medien Wulff in den Allerwertesten kriechen, weil er es tatsächlich geschafft hat, gleich mehrfach Subjekt, Prädikat und Objekt aneinanderzureihen - also seine dröge Rede zu halten. In dieser oktroyierten Friede-Freude-Eierkuchenstimmung stellt sich mir die Frage, ob das Jahr 2010 irgendwann gesonderte Erwähnung in den Geschichtsbüchern finden wird. Denn diese Legislaturperiode hat das Zeug zum zentralen Kapitel der deutschen Nachkriegsdemokratie-Geschichte. Vielleicht sogar zu ihrem Epilog.*

Das Geknüppel von Stuttgart ist dabei nur die Spitze eines Eisbergs, der bedrohlich auf das Schiff mit dem schönen Namen "Demokratie" zutreibt. Denn es geht nicht mehr nur um Bahnhöfe; auch nicht nur um rassistische Exbanker oder Zigarettenqualm. Es geht um nichts weniger als die Vorstellung, die wir als Gesellschaft von der Demokratie haben. Der Begriff wird gerade von mehreren Seiten in die Mangel genommen, gedehnt, verzerrt, zertrampelt und vergewaltigt. Wir sollten aufpassen, dass er am Ende nicht als zerknülltes Häufchen Abfall am Boden liegenbleibt.

Stell dir vor, es ist Demokratie und keiner weiß, warum

Beispiel Maischberger, vor ein paar Wochen. Der S21-Aktivist Walter Sittler ist zugeschaltet, und die ARD-Quotentalkerin, die manchmal gerne Anne Will anstelle von Anne Will wäre, entblödet sich nicht, ihn zu fragen: "Sie demonstrieren mit 30.000 Leuten. Gemessen an 600.000 Einwohnern sind das 5%. Welche demokratische Legitimation haben Sie denn?" Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Nach dieser Denke hat keine Demonstration, keine Initiative und schon gar keine Widerstandsbewegung eine demokratische Legitimation und damit wohl auch keine politische Daseinsberechtigung. Da können die Hartz-IV-Gegner ihre Transparente getrost wieder einpacken: Damit Meinungsmacherin Maischberger deren Anliegen eine demokratische Legitimation beimisst, müssten nächste Woche wohl mehr als 41 Millionen Demonstraten zur bundesweiten Demo nach Oldenburg kommen.

Beispiel Bayern. Nein, ich werde jetzt nicht das Fass über Sinn und Unsinn des Rauchverbots aufmachen, entsprechende Kommentare sind vollkommen sinnlos. Es geht mir hier nur um eines: Das Rauchverbot ist von allen Gesetzen der jüngeren Vergangenheit das am weitaus demokratischsten zustande gekommende - durch einen Volksentscheid, bei dem eine Mehrheit der Teilnehmer dafür gestimmt hat, das Rauchen zu untersagen. Basisdemokratischer geht es in diesem Land zurzeit nicht. Und wie reagieren die Verlierer: Mit zivilem Ungehorsam, den man sich an mancher anderen politischen Baustelle wünschen würde, mit Morddrohungen und mit Gewaltausbrüchen gegen den Initiator. Es ist eben immer leichter, ein Feindbild zu konstruieren als sich dem Willen der Mehrheit zu beugen. Aber von was für einem Demokratieverständnis zeugt es, wenn man nicht einmal mehr einen Volksentscheid akzeptiert?

Beispiel Sarrazin. Auch hier will ich nicht weiter auf seine, ähem, "Thesen" eingehen, sondern auf die Reaktionen auf  die Debatte um seine Entlassung. Dass unzählige Leute mit der Faust auf den Stammtisch hauen und brüllen "Jawoll! Recht hatter *rülps*!" - geschenkt. Aber was reitet die Leute, die Meinungsfreiheit - nicht zuletzt der wohl wichtigste Baustein eines demokratischen Gemeinwesens - in Gefahr zu sehen? Von einer Gefährdung konnte gar keine Rede sein, au contraire: Die ganze leidige Sarrazin-Debatte war ein Fest der Meinungsfreiheit. Nicht nur durfte er seinen menschenverachtenden Dreck ungestraft unters Volk bringen - ihm wurde die Bundespressekonferenz dafür zur Verfügung gestellt! Und Spiegel und Bild haben seine Ergüsse seitenweise unkommentiert abgedruckt. Dass er seinen Posten nun verloren hat, ist dem Umstand geschuldet, dass er als Bundesbankvorstand Repräsentant dieses Staates war - und als solcher zündelt man nicht am sozialen Frieden. Das geht jedem Arbeitnehmer genauso, der öffentlich etwas äußert, dass sein Chef als schädlich für den Betrieb ansieht. So what?

Weitere Beispiele stehen reihenweise Schlange: Afghanistan, Atomgesetz, Hartz IV... etc.pp. Ich möchte mich aber auf die oben genannten drei Themen konzentrieren.

Wer versteht hier nur Bahnhof?

Ich will hier gar nicht lange das Projekt S21 an sich diskutieren. Ich halte es für größenwahnsinnig, aber die Frage nach Sinn und Unsinn des Baus möchte ich dennoch außen vor lassen. Tatsächlich gehen die Bürger in Stuttgart wohl auch nicht nur wegen des Bahnhofs auf die Straße, sondern weil sie durchschaut haben, dass die Politiker nicht an ihrer Meinung, sondern lediglich an ihrer Stimme interessiert sind, und das auch nur alle paar Jahre - das betrifft nicht nur S21, sondern so ziemlich alle politischen Vorhaben der letzten Jahre. Die Steigerungen von Politikverdrossenheit aber sind Enttäuschung, Frust und letztlich Wut. Maischbergers Legitimationstheorie ist irrelevant: Die Menschen fragen sich, ob die Volksvertreter noch Legitimation besitzen, wenn sie sich von ihnen nicht mehr vertreten fühlen.

Volksentscheide könnten in vielen Fällen helfen; sie sind das demokratischste Instrument, das den Bürgern zur Verfügung steht. Allerdings müssen ihre Ergebnisse dann auch akzeptiert werden, das heißt: Man muss auch mal verlieren können, liebe Bayern. Wenn ihr den Frankenberger erschlagt, ändert sich am Beschluss der Mehrheit nichts. Wenn die Bürger allerdings auch auf einen Volksentscheid mit Frust und Wut und latenter Gewalt reagieren, dann frage ich mich, was diese Leute überhaupt für politische Vorstellungen haben.

Gesellschaftliche Gehirnerschütterung

Das kann einem Angst und Bange machen: Den Menschen wird gesagt, Demonstrationen gegen parlamentarische Beschlüsse wären quasi undemokratisch und wer daran teilnimmt, muss dann eben mit Schlägen rechnen; gleichzeitig werden nahezu sämtliche politisch bedeutsamen Weichenstellungen zurzeit gegen die Mehrheit des Volkes gefällt - und wenn selbiges dann doch einmal befragt wird, ist das Ergebnis auch wieder nicht richtig. An den Stammtischen wird gezetert wie eh und je, und mal sind die Politiker die Bösen und mal die Leute am Nebentisch.

Mir scheint, im politischen Bewusstsein der Leute ist gehörig etwas durcheinander gekommen.

Wenn das dazu führt, dass die Menschen resignieren und sich vom Demokratischen System abwenden, weil sie mit dessen Ergebnissen immer unzufriedener sind, egal, von wo aus der jeweilige Impuls kommt - dann haben wir ein Problem. Die rechten Rattenfänger stehen für diesen Fall längst bereit, und damit ist nicht nur die NPD gemeint.

Die bundesdeutsche Demokratie ist an einem Scheideweg angelangt - ich möchte gar behaupten, sie befindet sich in einer schweren Akzeptanzkrise, vielleicht sogar in ihrer schwersten. Dass diese Krise nach außen hin wenig spaktakulär aussieht, macht die Sache nur gefährlicher. Aus dieser Krise kommen wir nur heraus, wenn wir die Demokratie neu erfinden und sie neu etablieren: Durch Partizipation, Artikulation, Diskurs und die Rückbesinnung darauf, wer hier eigentlich das Mandat vergibt. Das wäre revolutionär, nicht Merkels Atomkungelei.

Vielleicht entscheidet sich diese Auseinandersetzung in Stuttgart. Und vielleicht bleibt 2010 nicht als das Jahr in Erinnerung, in dem die Demokratie den Bach runterging - sondern als das, in dem sie wiederentdeckt wurde.



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* Zum Titel dieser Serie: Der Politologe Francis Fukuyama postulierte vor 18 Jahren das "Ende der Geschichte", nachdem sich die liberale Demokratie westlichen Musters offenbar endgültig durchgesetzt hatte. Damit lag er offensichtlich falsch - aber in anderer Hinsicht scheint es mir, als wären wir tatsächlich am Ende eines Weges angekommen.

4 Kommentare:

Heute-mal-dieser-Blog-Impi hat gesagt…

Naja, endlich ist mal wieder Rabatz auf den Straßen und in den Kneipen. Von Stuttgart 21 bishin zum Salonrassisten Sarrazin - man haut sich verbal mal wieder ordentlich aufs Maul. Find ich gar nicht mal so verkehrt.

Ich meine, der Gegenseite die Legitimität abzuschneiden und sich selbst als Opfer zu stilisieren ist doch nun wirklich kein neues Stilmittel im politischen Diskurs. Das wird sich bei jedem großen Thema der bundesrepublikanen Nachkriegsgeschichte finden.

Ob die grenzenlose Arroganz von Mappus oder das oberlehrerhafte "sie haben mein Buch nicht gelesen"-Mimimi von Sarrazin da rückblickend irgendwann mal als Sternstunden von Demokratie und Meinungsfreiheit bewertet werden, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Ich teile allerdings eine gewisse Sorge, genauer, ein gewisses Mißtrauen in die Stabilität der Berliner Republik. Das gesellschaftliche Klima rutscht momentan bedenklich nach rechts. Außländerfeindlichkeit ist tief in der sogenannten Mitte der Bevölkerung verankert und jeder Zehnte wünscht sich nach aktuellen Umfragen der Friedrich-Ebert-Stiftung einen "starken Führer". Das letzte Mal, als solche Dinge in Deutschland "diskutiert" wurden, gingen Flüchtlingsunterkünfte so lange in Brand auf, bis das Asylrecht faktisch abgeschafft wurde.

Ob die direkte Demokratie hier irgendwas verbessert, wage ich allerdings mal zu bezweifeln.

Dr. No hat gesagt…

Der Impi... schön, mal wieder was von dir zu hören bzw. lesen.

Ja, direkte Demokratie hat ihre Nachteile; ich vermute, die Deutschen hätten, wenn sie etwa den Bundespräsidenten direkt wählen dürften, 1990 mehrheitlich Franz Beckenbauer ihre Stimmen gegeben.

Um der fortschreitenden Entkoppelung zwischen Herrschenden und Beherrschten entgegenzuwirken, liegt aber wohl bis auf weiteres keine bessere Alternative auf dem Tisch, vielleicht wäre es einen Versuch wert. Ich fürchte mich zwar auch davor, wie ein sarrazinisiertes Volk etwa über Bleiberechte abstimmen würde - Beispiele wie etwa Tempelhof zeigen aber doch, dass die Leute intellektuell nicht vollständig der Boulevardpresse zum Opfer gefallen sind.

Naja, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

MachiaImpi hat gesagt…

Ich glaube ja, dass die Menschen im Allgemeinen und die Deutschen im Besonderen nur begrenzt Interesse an der Politik haben. Auf "die da Oben" lässt es sich nicht nur trefflich schimpfen, sondern man kann auch jede Verantwortung an sie übertragen.

Sollten wir aber zu direkten Formen der Demokratie finden, ich möchte bitte die Fragen für die Plebiszite formulieren!

Dr. No hat gesagt…

Au ja!

"Sind sie damit einverstanden, dass der Führer, den Sie sich gewünscht haben, NOCH MEHR Autobahnen baut?"

O Es wird ja nicht alles schlecht gewesen sein.
O Er hätte das mit den Autobahnen nicht getan haben sollen!
O Ja. Von meiner Haustür zu meiner 50 km entfernten Arbeitsstelle. Aber zack-zack!

Oder auch:

"Sind Sie nicht der Meinung, dass die Nichteinführung von Mindestlöhnen die Lebensumstände der Menschen nicht verschlimmbessern würde?"
0 Ja
O Glaub' schon
O Häh?

Oder, analog zu deinem Blogpost: "Soll die Bundeswehr Liechtenstein überfallen, um die dort bunkernden Vermögen der Steuerbetrüger zu sichern?"

O Jawoll!
O Was für eine Frage!
O Rumta-rumta-RUMTATA!

Wäre auch mein Traumjob. ;-)