Donnerstag, 5. April 2012

Echt grass, was der geschrieben hat

Eigentlich wollte ich mich zu diesem Thema nie äußern. Aber es gibt so Tage, da stelle ich mir wirklich die klassische Psychiaterfrage, ob vielleicht ich normal bin und der gesamte Rest der Welt verrückt geworden ist. Heute ist so ein Tag. Die Welt dreht sich um Grass, scheint es - aber eigentlich dreht sich die Welt bloß vor den Augen der ganzen Leute, die sich jetzt empört zu Wort melden.


Ja, Grass postuliert ohne Not einen israelischen Nuklear-Erstschlag, obwohl dort doch wohl eher an einen konventionellen Angriff gedacht wird - der sich, wenn's ganz doof läuft, zwar zu einem atomaren Schlagabtausch ausweiten könnte, aber das ist bloße Spekulation. Ja, Grass bringt Ursache und Wirkung durcheinander, wenn er die israelische Angriffsrhetorik als Bedrohung des Weltfriedens ansieht, die Vernichtungsfantasien eines Ahmedinedschad aber nicht. Und ja, er hätte sich Formulierungen wie "Auslöschung des iranischen Volkes" sonstwohin stecken sollen, statt sie zu verwenden, nur um eine ebenso billige wie geschmacklose Konnotation zum Holocaust zu erzeugen, der der unfeine Geruch eines Aufrechnungsversuchs umgibt.

Das kann, das muss man ihm vorhalten. Aber sonst? Ist Grass jetzt ein Antisemit, weil er die Angriffsdrohungen Israels kritisiert? Oder - das ist noch das schärfste an dem analogen Shitstorm, der gerade über ihn hinwegfegt - womöglich immer einer gewesen? Schließlich war er mit 17 in der Waffen-SS. Und rückte erst sehr spät damit raus. Wenn das mal nicht verdächtig ist. In dieser Debatte ist Godwins Gesetz schon nach zwei Sekunden übererfüllt worden, aber vermutlich geht es bei diesem Thema auch gar nicht anders. Ohnehin geht es doch gar nicht um Grass, mir jedenfalls nicht.

Eine kritische Auseinandersetzung mit israelischer Politik folgt seit jeher einer bestimmten Mechanik, und am Ende des jeweils gewählten Argumentationsweges, so verschlungen er auch sein mag, langt man immer an einem Zielpunkt an, an dem einem Antisemitismus vorgeworfen wird - es wirkt wie eine verunglückte Parodie auf das Godwinsche Gesetz. Diese Mechanik funktioniert wie folgt: Die israelische Regierung unternimmt irgendwas, was man doof findet und das dann auch laut sagt - das, so schallt es einem sofort in doppelter Lautstärke entgegen, könne ja nur folgende Ursachen haben: Entweder findet man (a) Juden generell doof, das ist die einfachste Schiene, oder (b) den Staat Israel doof, was auf dasselbe hinausläuft, oder (c) spreche Israel mit seiner Kritik das Recht ab, seine Interessen zu verteidigen, ergo rüttle man an dessen Existenzrecht, ergo ist man Antisemit. Dafür reicht bekanntlich schon das Tragen eines Palästinensertuches.

Diese Mechanik konstruiert aber eine ganz eigene Form des Antisemitismus, da sie keine Unterscheidung trifft zwischen der politischen Führung, der breiten Bevölkerung und der Religion. Natürlich: Israel ist eine Demokratie, also setzt die politische Führung theoretisch nur den Willen des Volkes um. Dass dieser Schulbuchzusammenhang  allerdings bloß hanebüchener Unsinn ist, muss doch wohl niemandem erklärt werden - es ließen sich in Deutschland problemlos ein Dutzend Themen nennen, bei denen die Regierung gegen die Volksmehrheit handelt. Wer aber nun eine Kritik an der Politik einer Regierung stets gleichsetzt mit einer Kritik am mutmaßlichen Volkswillen und am religiösen Bekenntnis der Bevölkerung, pauschalisiert letztlich alles und verkocht es zu einem Einheitsbrei. Die Amis. Die Araber. Die Juden.

Es gibt aber nicht "die Juden", die - je nach Standpunkt - nur darauf lauern, einen Krieg vom Zaun zu brechen oder die eben das verdammte Recht haben, alle Maßnahmen zu ergreifen, die Ihnen in den Sinn kommen. Es gibt eine Friedensbewegung in Israel. Es gibt Deserteure, die sich weigern, Gaza zu bombardieren. Es gibt Leute, die die Grenzmauer scheiße finden. Es gibt diese rührende Facebook-Lovestory zwischen Israelis und Iranern. Man muss sich vergegenwärtigen, dass es Unterschiede und Abstufungen gibt zwischen Machtpolitik und Bedrohungsgefühl, zwischen Kriegstreiberei und dem simplen Wunsch, in Frieden zu leben und in einen Bus einsteigen zu können, ohne Angst haben zu müssen, als Fleischbrei an der nächsten Hauswand zu enden.

Wer in dieser Frage stets einseitig und automatisch Stellung für die israelische Politk bezieht, weil er sich einredet, das jüdische Volk damit in toto in Schutz zu nehmen und damit moralisch auf der guten Seite zu stehen, wird der Vielschichtigkeit der Grundlagen, die zu politischen Entscheidungen führen - und zwar in jeder Gesellschaft - nicht gerecht. Man kann Israel lieben und dennoch die Regierungsdoktrin ablehnen. Man kann bereit sein, das Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, aber sich weigern, illegale Siedlungen anzuerkennen. Man kann Mitgefühl für palästinensische Flüchtlinge haben, aber die Terrorakte verabscheuen. Das sind keine Entweder-Oder-Fragen.

Die mediale Reaktion scheint im Falle Israels indes fast immer übers Rückenmark zu laufen: "Was, der sagt was gegen Israel? Das muss ein Antisemit sein. Ich hingegen bin kein Antisemit. Also nehme ich Israel in Schutz, am besten so vehement wie möglich, damit daran kein Zweifel besteht." Und dann entstehen so skurille Situationen wie gestern: Da erklärte mir Claus Kleber, der erst wenige Tage zuvor von Ahmedinedschad vorgeführt worden war wie ein ressortferner Volontär, mit perfekt einstudierter Betroffenheitsmiene, warum es gut und nötig sei, dass Deutschland Israel U-Boote liefere, die in der Lage sind, Atomwaffen zu starten. Nicht, weil sich aus den Verbrechen der Deutschen am jüdischen Volk eine Verpflichtung ergebe, zu dessen Verteidigung beizutragen, nein: Mit solchen U-Booten, erklärte Kleber, sei die Fähigkeit zum Zweitschlag gesichert, und das habe Europa ein halbes Jahrhundert Frieden beschert - wer das nicht sehe, müsse wohl schon sehr beschränkt sein, hörte man zwischen den Zeilen heraus. Oder verblendet. Wie Grass.

Bin ich jetzt irgendwie komisch, wenn ich die Sache viel gradliniger sehe?

Wenn ich es so sehe, dass die Zweitschlagskapazität zu Zeiten der Blockkonfrontation keine pazifistische Wundertüte war, sondern lediglich die maßlose Übersteigerung einer atomstrategischen Perversion, der eine kaltblütige Vernichtungsarithmetik zugrunde lag?

Wenn ich glaube, dass das 40 Jahre andauernde Taumeln der Menschheit am Abgrund ihrer eigenen Auslöschung, in den sie ein paarmal versehentlich beinahe hineingestolpert wäre, nicht unbedingt als Modell für die Aufrechterhaltung von Stabilität in einer Region taugt, in der sich alle gegenseitig zu hassen scheinen?



Wenn ich der Meinung bin, man darf politische und militärische Entscheidungen und Planspiele aufgrund ihres jeweiligen Inhalts kritisieren, eben weil sie politische und militärische Entscheidungen und Planspiele sind, ganz unabhängig davon, wer sie anstellt - weil es um Schicksale von x-tausend Menschen geht?

Wenn ich nicht davon überzeugt bin, dass Militärschläge oder die Drohung mit solchen ein konstruktives politisches Mittel zur Lösung von Konflikten darstellen, auch dann nicht, wenn man dem Gegner die - George W. lässt grüßen - heimliche Entwicklung von Massenvernichtungswaffen unterstellt?

Wenn ich denke, Deutschland solle überhaupt keine U-Boote an irgendwen liefern, schon gar nicht atomwaffenfähige? Dass Deutschland nach zwei Weltkriegen lieber alles dafür tun sollte, der Aufrüstung der Welt entgegenzusteuern, statt sie anzufeuern? (Ja, ja, wenn "wir" es nicht machen, tun es "die anderen", und bei uns gehen Arbeitsplätze flöten, schon klar. Wer aber so argumentiert, tickt genauso seelenlos wie die Militärs in ihren tiefen Bunkern, die kleine Spielzeug-U-Boote über die Weltkarte schieben.)

Also, ist Grass nun ein Antisemit? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. An seinem heiß diskutierten Sermon, der hoffentlich bald dem verdienten Vergessen anheimfallen sollte, es aber wohl nicht tun wird, kann man es kaum festmachen. Was sich aber durch die ganze Geschichte wieder einmal gezeigt hat, ist, dass "Antisemitismus" zu einer hohlen Phrase verkommt, einer rhetorischen Waffe in einer niedrigschwelligen Diskussionskultur, einer bloßen Israelkritikabwehrfloskel. Dem sollte künftig entgegengewirkt werden, denn letztlich profitieren von einer solchen Deutungsabwertung wohl nur die wahren Antisemiten. Ein weniger hysterischer Umgang mit solchen Themen wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.

1 Kommentar:

rauskucker hat gesagt…

Sehr schön beobachtet, sehr schön differenziert. Manchmal neige ich inzwischen bei dem Konflikt auch zur Einseitigkeit, dagegen können einem solche Gedanken helfen, danke.

Etwas habe ich aber anders gesehen: das was Herr Kleber da über die nukleare Abschreckung meinte. Und zwar fand ich, wenn man schon den Abschreckungsgedanken akzeptiert, müßte nach Klebers Argumentation eigentlich Deutschland seine U-Boote an den Iran liefern, der sich ja gegen einen drohenden Erstschlag wappnen muß. Erstaunlich, daß der Nachrichtenmensch nicht fähig ist, diese Folgerung aus seinen eigenen Argumenten als mögliche zu erkennen, geschweige denn sie selber zu ziehen. Oder eben leider in der allgemeinen mentalen Kriegsvorbereitung nicht erstaunlich. Erinnert mich an Massenhypnose.