Freitag, 28. Januar 2011

Offener Ekel angesichts der Offenen Antwort auf einen Offenen Brief

Ich unterbreche mein selbstauferlegtes Sarrazin-Schweigegelübde für folgenden Beitrag, den ich verfassen muss, um das ansonsten mit Sicherheit eintretende Platzen verschiedener Körperteile abzuwenden. In diesem Fall geht es auch nicht um das Inhaltliche der, ähem, geistigen Ergüsse des Hobbygenetikers, sondern um das Hofieren des Mannes seitens meiner Heimatzeitung. Das hat unlängst ein dermaßen unerträgliches Maß angenommen, dass man sich fragt, wieviel Leute wohl ins Büro des Chefredakteurs kotzen müssten, um ihn samt seines Schreibtischs aus dem Fenster zu spülen.


Kurze Zusammenfassung der Geschehnisse: Die Nordwest-Zeitung berichtete monatelang äußerst wohlwollend über Sarrazins Äußerungen und bewirbt sein Buch, lädt ihn schließlich zu einer Lesung nach Oldenburg ein, weigert sich, zu diesem Auftritt einen Gegenredner hinzuzuziehen und schließt sämtliche Journalisten anderer Medien aus. Auf den der Chefredaktion später zugesandten Offenen Brief, bei dessen Veröffentlichung im Onlineauftritt der Zeitung leider, ach, die Zahl der Unterzeichner (300) irgendwie *räusper* herausgefallen ist, reagierte der Boss auf gleiche Weise; beide Schreiben wurden nebeneinander abgedruckt. Immerhin.

Aus der Antwort des Chefredakteurs Rolf Seelheim an die Verfasser und Unterzeichner des Offenen Briefs möchte ich nur ein paar Passagen herausgreifen, um die Perfidie in dessen Pseudoargumentation zu unterstreichen.

  • "Leider setzen Sie sich, wie die anderen 277 Mitunterzeichner, in Ihrem Schreiben nicht inhaltlich mit den Thesen von Herrn Sarrazin auseinander..."
    Das, mein lieber Chefredakteur, war auch gar nicht der Punkt in dem Ihnen zugesandten Schreiben, sondern lediglich die Vorgehensweise Ihrer Zeitung bei der Veranstaltung der Lesung. Es ist schon erstaunlich, wie sehr man einen so kurzen Text derartig fehlinterpretieren kann. Es sei denn natürlich, man will es. (Lustig übrigens der Vorwurf, dass bei einem Offenen Brief nicht alle 300 Unterzeichner ihre persönliche Sicht der Dinge geschildert haben.)
  • "In NWZ-Interviews, Artikeln, Leserbriefen und Stellungnahmen äußerten sich Kritiker zum Sarrazin-Buch und seinen Schlussfolgerungen."
    Mit Leserbriefen, von denen tatsächlich ein oder zwei von Nicht-Sarrazin-Fans stammende offenbar quotenmäßig abgedruckt wurden, können Sie sich nicht schmücken, Herr Seelheim. Und was die anderen Formen angeht: Mag sein, dass ich ein bisschen bräsig bin, und vielleicht kenne ich auch nur unterbelichtete Leute - aber weder mir noch irgendeinem Menschen aus meinem Umfeld wollte auf Anhieb auch nur ein einziger Artikel einfallen, in dem tatsächlich konkrete Kritik an Sarrazin geübt und nicht nur lapidar in einem Nebensatz auf die Existenz einer solchen hingewiesen wurde.

    Aber schauen wir mal im eigens eingerichteten Sarrazin-Spezial auf nwzonline: Whoah, tatsächlich, ein Treffer! Und zwar ein übernommener dpa-Artikel: "Forscherteam kritisiert Thesen von Sarrazin", der auf die Arbeit von Naika Foroutan verweist. Die höchst weichgespülte Kernaussage dieses knappen Neunzeilers, der eigentlich längst bekanntes aufgreift: "Er ignoriert einfach Studien, die für Wissenschaftler und Fachleute von zentralem Gewicht sind." Klingt für den unbedarften Leser ein bisschen nach wissenschaftlicher Korinthenkackerei. Man hätte auch aus der seit Wochen online verfügbaren Studie direkt zitieren können: 
    "Die in der folgenden Übersicht präsentierten Zahlen, Tabellen, Schaubilder und Zitate aus den Publikationen renommierter und wissenschaftlich relevanter Institutionen sind hierfür beispielhaft und stehen Thilo Sarrazins Thesen über 'die Muslime' wahlweise auch 'die Türken und Araber' teilweise diametral entgegen."
    Schon ein anderer Schnack, oder? Vor allem, wenn man Sarrazins Verständnis von wissenschaftlichem Vorgehen dagegenhält:
    "Wenn man aber keine Zahl hat, erklärte Sarrazin dem Reporter weiter, muss 'man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch.'"
    Aber selbst wenn hier vereinzelt nachgehakt worden wäre, würde das bei weitem nicht ausreichen, um die ganzen Hurra-Artikel auch nur ansatzweise zu relativieren. Wenn die NWZ über Sarrazin schrieb, klang das i.d.R. so:
    "In dem heftig diskutierten, mit zahlreichen Tabellen und Statistiken arbeitenden Sachbuch „Deutschland schafft sich ab“ (Verlag DVA, 461 Seiten, 22,99 Euro) hatte der streitfreudige Mann die Folgen dargelegt, die auf Deutschland durch die Kombination von Geburtenrückgang, wachsender Unterschicht und Zuwanderung aus überwiegend muslimischen Ländern zukommen."
    Manchmal würde einem Text die Verwendung des Konjunktivs gut tun - es sei denn natürlich, man macht sich die Aussage zu eigen. Der Konjunktiv kommt konsequenterweise auch eher dann zum Einsatz, wenn doch mal Kritiker erwähnt werden (was dann eher so klingt: "Sarrazin rechnet mit Kritikern ab"). Und schließlich profiliert sich ein Medium inhaltlich durch Kommentare. Ich darf mal zitieren?
    "Mit seinen gedruckten Thesen zur gescheiterten deutschen Integrationspolitik allein wäre es schwergefallen, ihn aus seinem Amt als Bundesbanker zu vertreiben. So aber siegte, kaum überraschend, eine Viel-Parteien-Koalition aus selbst ernannten Gutmenschen und gutmeinenden Illusionisten."
    Und was ist mit den erwähnten Interviews? Mal sehen, welch schonungslose Kritik da thematisiert wurde:
    "Herr Professor Bolz, in Deutschland wird weiterhin über die Thesen des Bundesbankvorstands und früheren Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin (SPD) zur Integrationspolitik diskutiert. Sie stehen auf Sarrazins Seite. Warum?"
    Nein, das wird es nicht gewesen sein. Vielleicht das hier?
    "Herr Bundestagspräsident, hat Bundespräsident Christian Wulff im Fall Thilo Sarrazin seine Kompetenzen überschritten und die Unabhängigkeit der Bundesbank verletzt?"
    Auch nicht. Na, dann vielleicht hier, unter der Überschrift "Warnung vor Gedankenpolizei" (allen Ernstes):
    "Hat Sarrazin den Fehler begangen, das Richtige auf falsche Art und Weise zu sagen?"
    Hrmpf. Bringt nicht viel. Gehen wir stattdessen weiter im Text des Chefredakteurs.
  • "Ich gehe davon aus, dass Sie und die Mitunterzeichner Ihres Briefes sicherlich alle das Sarrazin-Buch gelesen haben, um es so engagiert ablehnen zu können."
    Aua - das Totschlagargument schlechthin. Aber es ist ebenso verlogen wie feige. Verlogen, weil er damit die Regel aufstellt, man dürfe sich nur zu etwas äußern, mit dem man sich zuvor intensivst auseinandergesetzt hat. Das ist zwar grundsätzlich sinnvoll, aber nicht unbedingt nötig: Natürlich kann man Kritik an Sarrazin üben, ohne das Buch gelesen zu haben! Es gibt doch zahllose Interviews in Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehauftritte etc.pp., die absolut geeignet sind, sich ein Bild von Sarrazins Weltbild zu machen, das ausreicht, um selbiges abzulehnen. Selbst wenn man nur die Geschichte mit dem Juden- und Basken-Gen gehört hat, reicht das völlig aus, um Sarrazin für den rechtslastigen Brandstifter zu halten, der er ist.

    Das nicht anzuerkennen und die Auseinandersetzung mit Kritikern unter diesem fadenscheinigen Nicht-Argument abzulehnen, ist feige. Und dann auch noch unterschwellig und genüsslich zu suggerieren, dass all die ungewaschenen Sarrazin-Kritiker das Buch natürlich nicht gelesen haben - vielleicht nicht einmal richtig lesen können - ist mehr als perfide, es ist nur noch widerwärtig. Und ich hoffe, dass derselbe Chefredakteur auch artig das "Kapital" gelesen hat, bevor er zur nächsten Runde Kommunistenbashing ausholt.
  • Zum Abschluss, nach einer leicht weinerlichen Passage, in der sich Mr. NWZ auch noch an Carl von Ossietzky vergreift, darf natürlich der gute Voltaire nicht unerwähnt bleiben: Ich teile Ihre Meinung nicht, ich werde aber bis zu meinem letzten Atemzug dafür kämpfen, dass Sie Ihre Meinung frei äußern dürfen."
    Hmmm. So wie die NWZ bis zum letzten Atemzug dafür gekämpft hat, dass ein Sarrazin-Kritiker während der Lesung zu Wort kommt?
Schlimm genug, dass die NWZ den Begriff der Überparteilichkeit, den sie stolz im Titel führt, mit ihrer Pro-Sarrazin-Kampagne vollständig entwertet; schlimmer, dass sie dies anschließend leugnet und sich zu einer Art Märtyrer des freien Journalismus stilisieren will - der ihrer Meinung nach bekanntlich dadurch geprägt ist, dass man Menschen ungestraft vorverurteilen darf. Journalismus aber muss stets kritisch, distanziert und differenziert sein. Wenn ein Medium dies nicht nur nicht erfüllt, sondern dezidiert ablehnt, ist die Berichterstattung irgendetwas anderes, aber nicht journalistisch.

Das Antwortschreiben des Chefredakteurs ist nichts weiter als ein Pamphlet, das vor einer seltsamen Mischung aus Selbstgefälligkeit und Heulsusigkeit nur so trieft. Leider steht zu befürchten, dass die Leser, die Sarrazin zum Mann des Jahres 2010 gewählt haben, diese billige Tour nicht durchschauen.

2 Kommentare:

CitrusImpi hat gesagt…

Irgendwie summt mir bei Sarrazin immer ein Lied durch den Kopf:

http://www.youtube.com/watch?v=01Hxq-PFOlc

Dr. No hat gesagt…

Schöner Text, aber ein bisserl anstrengend beim Hören. Naja, bleibt mir ein neuer Ohrwurm erspart (derzeit "Maggi - immer eine gute Suppe").